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Der verlorene sohn

Wie sich ein Telefongespräch für Anja Müller* zu einem jahrelangen Albtraum entwickelte

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Anja Müllers Sohn wird als Kleinkind entführt. Er lebt, doch bleibt jahrelang unerreichbar. Wie hält eine Mutter das aus?

Es ist Sonntag, gegen 18 Uhr, als bei Anja Müller in Kriens das Telefon klingelt: «Wir sind noch in Italien. Es gab eine Panne, wir kommen heute nicht mehr zurück.» Acht Jahre werden vergehen, bis sie ihren Sohn wiedersieht. Später wird er sie betreiben, meiden und fragen: «Wo warst du die ganze Zeit?» Aber davon ahnt Anja nichts, als sie den Hörer auflegt, an jenem Abend im Juni 1991.

 

Hatte es Anzeichen gegeben? Dass er ausfallend werden konnte, das wusste sie. Nichts war einfach gewesen, seit der Trennung im März 1991. Aber eigentlich war es das auch vorher nie. Sie und Marek* lernen sich 1978 kennen, später arbeitet sie in seinem Geschäft. Lügen, Misswirtschaft, Geldprobleme. Irgendwann kann sie nicht mehr, trennt sich. Während der gemeinsame Sohn Loris* bei ihren Eltern im Aargau schläft, fährt sie ein letztes Mal ins Büro. Plötzlich steht Marek vor ihr. «Wenn du gehen willst, dann geh. Aber ohne Loris. Wo ist mein Sohn?», brüllt er. Aus Worten werden Handgreiflichkeiten, Anja schreit, er drückt ihr die Hand auf den Mund, sie glaubt zu ersticken. Und als die Nachbarn endlich hergerannt kommen, ist ihr Mann bereits auf dem Weg zu ihren Eltern. Dort kommt es erneut zu Handgreiflichkeiten, und Marek flüchtet mit Loris aus dem Haus.

 

Wo ist das Kind?


Die Nächte im Frauenhaus, die Tage im Besprechungszimmer ihres Anwalts. Wohnung suchen, Bewerbungen schreiben. Nicht verzweifeln. Drei Wochen vergehen, bis Anja ihren Sohn wieder bei sich hat, später spricht ihr das Gericht die Obhut für Loris zu. Marek erhält ein Besuchsrecht. Jedes zweite Wochenende holt er seinen Sohn ab und bringt ihn pünktlich zurück. Bis an jenem Sonntagabend das Telefon klingelt. Hätte sie es merken müssen? Sie waren bloss verreist, würden bald zurückkommen, bestimmt am Montag schon. So war es schliesslich abgemacht.


Es wird Montag, Dienstag, Mittwoch. Die Tage vergehen, ohne dass Zeit vergeht. Seit Loris’ Verschwinden am 30. Juni 1991 war sie stehengeblieben. Als sei der Zeiger auf 18 Uhr verharrt, nicht mehr weitergesprungen. Nach sieben Tagen: von Loris keine Spur. Waren sie tatsächlich bloss verreist?

Nach vierzehn Tagen: noch immer nichts. Nein. Er würde ihn niemals freiwillig zurückbringen. Jetzt erstattet ihr Anwalt Anzeige wegen Kindsentführung. Der Zeiger springt um, eine neue Zeitrechnung ohne Loris beginnt.
 

Der härteste Gegner sitzt im Kopf

Loris fehlt. Anja spürt ihn überall. Im Kinderzimmer, in den Zeichnungen, den wenigen Fotos. Es muss aufhören. Aufhören! Sie verkauft das Bett, verschenkt Spielsachen und Kleider. Lässt die Erinnerungen an ihren Sohn verschwinden. Doch ihr härtester Gegner, das würde Anja noch merken, sitzt nicht in Holz, Plüsch oder Baumwolle. Er sitzt in ihrem Kopf. Es wird Herbst, das Kantonsgericht Luzern entzieht Marek das Sorgerecht. Es wird Winter, Interpol fahndet, bisher erfolglos. Inzwischen bereitet ihr Anwalt die Scheidungsklage vor, Monate zu spät. Marek hat die Scheidung längst eingereicht. In seiner Heimat Tschechien. 


Wäre Loris noch da.
24. Dezember 1991. Sie würde mit ihm den Baum schmücken, ein Geschenk darunterlegen.
31. Dezember 1991. Sie würde mit ihm Feuerwerk zünden, das neue Jahr begrüssen.
16. Januar 1992. Sie würde ihm einen Kuchen backen, vier Kerzen darauf stecken.
All das würde sie tun, wäre Loris noch bei ihr. Doch ihr Sohn ist weg.

Die Erinnerungen quälen Anja. Es sind Funken, die sich jeden Moment zu einem lodernden Feuer entzünden können, um tief in ihrem Innern zu wüten. Loris muss aus ihrem Kopf verschwinden. Sie würgt ihre Gedanken ab, entzieht der Liebe den Sauerstoff. Übrig bleibt eine Sehnsucht, die als Glut leise vor sich hin schwelt.

22. Dezember 1992. Anhörung in Tschechien. Ohne Marek, ohne Loris. «Mein Mann hat Loris entführt», sagt Anja. «Gewiss. Doch nun hat sich Ihr Sohn an seinen Vater gewöhnt», sagt das Gericht. Später erhält Marek das Sorgerecht, das Besuchsrecht wird gestrichen. Anja leidet. Und nimmt den Entscheid hin. Etwas hat sich verändert. Längst quälen Anja nicht mehr bloss die Gedanken an das, was fehlt. Es quälen sie auch die Gedanken an das, was fehlen könnte. Die Angst vor erneutem Verlust, sie lähmt.

Die Anzeige wegen Kindesentführung bleibt bestehen. «Bedenken Sie», sagt die Polizei, «dass Ihr Sohn zunächst in einem Kinderheim landet, falls Ihr Ex-Mann mit ihm aufgegriffen wird.» Und als ihr Marek eines Tages eine Fax-Nachricht aus dem Irak schickt, kriegt Anja Panik. Und zieht die Anzeige zurück.


Er kennt sie, doch erkennt sie nicht

1. Oktober 1997. Mareks Anwalt schickt einen Brief. Vater und Sohn sind in die USA ausgewandert, brauchen Geld, fordern Alimente. Rückwirkend für viereinhalb Jahre. Es folgen Briefe, die Betreibung, ein Gerichtsentscheid. Dann steht fest: Anja muss zahlen. Kurz darauf klagt ihr Ex-Mann erneut. Er braucht mehr Geld, fordert höhere Alimente. Wieder Briefe, wieder ein Entscheid. Nun muss Anja ihrem Ex-Mann jeden Monat 650 Franken überweisen. Doch auch Marek schuldet ihr etwas. Die Telefonnummer von Loris. Anja stehen vier gemeinsame Wochen mit ihrem Sohn zu. Pro Jahr.

 

98, 99, 100. Eine Therapiestunde folgt der nächsten. Und manchmal, wenn Anja durch die Strassen läuft, kommt Loris auf sie zugerannt. Sie erkennt ihn in Marco und Tom, in Julian und Andreas. In allen Kindern.

Wie er wohl aussieht? Ob sie ihn noch erkennen würde, ob es ihm gut ging. Ob er sich an sie erinnerte? Loris war noch ein Kleinkind, als Anja zum letzten Mal mit ihm gesprochen hatte. Inzwischen sind siebeneinhalb Jahre vergangen. «Ich vermisse und liebe dich», sagt sie nun, an jenem Tag im November 1998, beim ersten Telefonat. Und er fragt: «Wenn du mich liebst: Warum bezahlst du nicht für mich?»


Nun telefonieren sie jede Woche.
«Hoi Loris.» – «Hallo.»
Sie ist seine Mutter.
«Hoi Loris.» – «Hallo.»
Er kennt sie. Doch erkennt sie nicht.
Hallo Anja – Tanja – Ronja – Sonja. Sie ist für ihn eine unter vielen. Verwechselbar, auswechselbar. Verzichtbar.


Am 17. Juni 1999 fliegt sie nach Miami. Das erste Treffen, knapp acht Jahre nach Sonntag. «Hast du Geld, Anja?», «Ich will in den Spielsalon.» «Ich will, ich will, ich will.»


Sie leben im gleichen Zimmer, in anderen Welten. Als sie «Disney Land» besuchen, rennt er von ihr weg, taucht in der Menschenmasse ab. Und wieder auf, und wieder ab. «Wie oft», denkt sie, «will er denn noch verschwinden?» Nach zehn Tagen hebt die Maschine in Richtung Schweiz ab. Und Anja atmet auf.


Wie viele Kinder hat Anja? Sie weiss die richtige Antwort nicht

Zurück aus Miami, zurück am Telefon.
Hoi Loris.» – «Hallo.»
Plötzlich wird es schwieriger, mit Loris zu sprechen.
«Heute ist schlecht.» Er sei krank, beim Sport, bei Freunden, sagt Marek.
Wenn du mir Geld für ein Handy schicken würdest, wäre ich immer für dich erreichbar, Anja.» Also schickt sie Geld, doch der Brief wird retourniert. Und als Anja eines Abends wieder anruft, ist die Rufnummer ungültig. Dann, kurz vor Weihnachten, schreibt ihr Marek. Sie möge ihre Alimente auf ein anderes Konto überweisen. «Solange», schreibt Anja, «solange ich nicht weiss, wo ihr seid und keinen Kontakt zu Loris haben darf, solange werde ich nicht mehr zahlen.» Keine Antwort.

 

Irgendwann, denkt Anja, würde ihre gemeinsame Zeit kommen. Irgendwann würde Loris erkennen, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, jene des Vaters. Doch bis dahin musste sie geduldig sein. 2002 kommt ihre Tochter Mia* zur Welt. «Wie viele Kinder hast du?», wird sie oft gefragt. Und Anja weiss die richtige Antwort nicht.


Eine Beziehung, ja. «Aber nur, wenn du mir Geld schickst»

2007 sucht Anja im Internet nach Loris, findet eine E-Mail-Adresse, schreibt ihm. «Wo warst du die ganze Zeit, Anja?», fragt er. Sie schreibt ihm einen Brief. Ihre Version der Geschichte, der ganzen Geschichte, seit Sonntag, 30. Juni 1991. Keine Antwort.


16. Januar 2008. «Happy Birthday, Loris!»
Keine Antwort. Ein paar Wochen später, doch noch eine E-Mail. Dass er keine Antwort gewusst habe. Dass sein Vater kein guter Vater, aber immerhin da gewesen sei. Nicht wie sie. Dass das Geld nicht auf den Bäumen wachse. Dass er von seinem Vater unabhängig sein wolle. Und dass er bereit sei, allenfalls mit ihr, Anja, eine Beziehung aufzubauen … Wenn sie ihn finanziell unterstütze.

 

Eine Beziehung, ja, aber nein, nicht so. Nicht über eine finanzielle Erpressung, nicht nach all den Jahren. Früher hatte Anja oft an die Zukunft gedacht. Damals hatten diese Gedanken sie getröstet. Nun stimmten sie sie traurig. Die Zukunft war jetzt, und nichts war gut. Als der Sohn eines Bekannten durch einen tragischen Unfall stirbt, denkt sie: «Er kann abschliessen, ich nicht.»


Sie halten sich die Hand vor dem Friedensrichter – als Parteien

In jenem Jahr meldet sich Marek erneut. Wieder wegen ausstehender Alimente. Wieder sieht man sich vor Gericht. Zwischenzeitlich meldet sich auch Loris. Er ziehe für das Studium von den USA zurück in die Schweiz. Sie möge ihn monatlich mit 2350 Franken unterstützen und das Schulgeld von 25 000 Franken übernehmen.

 

«Ich weiss nicht, woher ich dieses Geld nehmen soll», sagt sie, als sie sich nach neun Jahren wiedersehen, beim Friedensrichter. Dort nähern sie sich an, ausgerechnet dort, weinen und halten sich die Hand – während sie sich als Parteien gegenübersitzen.

 

Sie versprechen sich, den Kontakt zu vertiefen. Sie zeigt ihm die retournierte Post mit dem Geld für das Handy, die anderen Briefe. Eine Woche später, eine E-Mail von Loris: «Das, was du mir über meinen Vater erzählt hast, stimmt nicht. Ich bin nicht bereit, eine Beziehung auf Lügen aufzubauen.»

 

Vor dem Friedensrichter wird man sich nicht einig, später entscheidet das Amtsgericht Luzern-Land. Im August 2012 steht fest: Anja muss erneut zahlen. 15 000 Franken an den Sohn, 40 000 an den Ex-Mann. Geld, das sie nicht hat. Ende September sperrt das Betreibungsamt ihre Konten. Im November 2012 eröffnet Marek den Konkurs gegen Anja. Loris versucht, sie zu pfänden und betreibt sie ebenfalls: für Gerichtskosten und Gebühren.


«Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät»

Nun lebt Loris in der Schweiz, ist so nah wie seit Jahren nicht mehr. Und ferner als je zuvor. Manchmal streift Anja durch die Gassen Luzerns, planlos, nimmt einen Umweg, noch einen. Vertrödelt die Zeit. Was, wenn er plötzlich vor ihr stünde? Aus einer Haustüre käme, aus einem Geschäft? Was würde sie sagen? Nicht sagen? Anja sucht. Nach ihrem Sohn, der eines nicht will: gefunden zu werden.

 

Anfang 2018 erhält Anjas Tochter eine Nachricht auf Facebook. Loris möchte seine Halbschwester endlich kennenlernen.

«Sag deiner Mutter noch nichts».
«Warum nicht?»
«Ich will mit ihr nichts zu tun haben.»
Mia wird krank, erzählt Anja von ihrem Kontakt zu Loris, steht zwischen ihrer Mutter und ihrem Halbbruder. «Ich kenne nur deine Version der Geschichte und ich weiss nicht, ob sie der Wahrheit entspricht.» «Loris und ich sollten uns aussprechen, bevor ihr euch trefft», findet Anja.

Mia schreibt Loris, und der holt den Brief aus dem Keller, den ihm Anja 2007 geschrieben hatte, liest ihn nochmals. «Will sie das denn auch?», fragt er Mia. Anja will. Und schickt eine Freundschaftsanfrage. «Ich möchte dich endlich kennenlernen», schreibt sie ihm. Und Loris? Findet: «Es ist allerhöchste Zeit!»

Damals, 2007, habe er ihren Brief nicht verstanden. Vielleicht wegen des Deutschs, das er nach 20 Jahren USA nicht mehr verstand. Oder vielleicht, schreibt er ihr, sei die Zeit noch nicht reif gewesen. «Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Bitte entschuldige, dass ich dir nie eine echte Chance gegeben habe.»


«Hoi Loris.» – «Hallo Anja.»

11. Februar 2018, 14 Uhr, nun stehen sich die beiden am Bahnhof in Zug gegenüber, umarmen sich, weinen. Setzen sich ins Parkhotel, reden. Anja erfährt, dass sie bald Grossmutter wird, dass Loris mit einer Ex-Freundin von Marek geredet hatte, die ihm Ähnliches über seinen Vater erzählte wie Anja damals vor dem Friedensrichter.

Am 6. Juli hat Anja Geburtstag. Loris feiert mit ihr, überreicht ihr eine Karte.


Liebes Mami,
Zum ersten Geburtstag, den wir gemeinsam feiern können, will ich nur sagen, dass ich froh bin, dich wieder in meinem Leben zu haben. Viel zu viele Jahre gingen vorbei, ohne dass wir uns sehen konnten. Es ist sehr neu, aber es fühlt sich an, als ob wir nur kurze Zeit voneinander getrennt waren. Ich freue mich auf die Zeit, die wir nun als Familie verbringen können.


Happy Birthday, dein Sohn

*Name geändert

 

Dieser Artikel ist am 4. Dezember 2018 im Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern erschienen.

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