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Der Requisiteur vom Theater «Welt»

Rafi Huser aus Ottenbach hütet und verkauft Schätze aus längst vergangenen Zeiten

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Rafi Huser hätte erst Banker werden sollen, dann Maurer und Galvaniseur. Stattdessen schmiss er alles hin und wurde Antiquar, Detektiv, Forscher. Vergangenem Leben nachzuspüren, bereitet ihm «höchstes Glücksgefühl».

«Die ganze Welt ist Bühne /

und alle Fraun und Männer blosse Spieler /

Sie treten auf und gehen wieder ab.»

W. Shakespeare


Der Säbel gab ihm Rätsel auf. Der Griff aus Burma, handgeschnitzt, bessere Qualität, 19. Jahrhundert. Aber diese Klinge aus Stahl: «multi-atypisch». Der Vorbesitzer hatte die Oberfläche mit Stahlwolle verputzt. Und die Form, irritierend, widersprüchlich: «keinem Kanon folgend». Da war klar, dass Rafi das Stück haben musste.

«Flamboyant», seien sie, die Raritäten, die bei ihm Fragen aufwerfen. Ihn fesseln und umtreiben, ihn zum Suchenden machen, zum Detektiv und Forscher. Er legte die Klinge in Säure. Zum Vorschein trat die klare Struktur aus sich abwechselnden Lagen von Damaszener-Stahl. Also doch. Der Händler, wohl aus Burma, hatte den Griff mitgebracht und das Schwert vermutlich in Indien anfertigen lassen.


Rafi erzählt von Ausgrabungen, die Gleichaltrigen spielen im Sandkasten
Das Theater Welt schreibt laufend neue Stücke. Spieler kommen, Spieler gehen. Was bleibt, sind Requisiten, die einst ihr Leben schmückten. Rafi Huser, geboren 1966, sammelt sie heute, Albert Bernhard Huser, geboren 1915, sammelte sie früher. Ein forschender Geist sei er gewesen, ein wissbegieriger Mann, sein Grossvater, der ihn mit dem Antiquitäten-Virus angesteckt habe. Seine Kupfergelten und Holzwiegen standen in manch traditioneller Stube. Gekauft beim Dorfantiquar, Korbflechter, Zigeuner.

In der Schule lachten sie darüber, dass Rafi jenische Vorfahren hatte, der Vater vor der Geburt das Weite gesucht hatte, der Grossvater vor dem Haus Zainen flocht. Das Stigma der Andersartigkeit, es haftete an ihm wie ein übler Geruch. Er spielte nicht «Väterlis und Müeterlis», er spielte «Römer», referierte im Sandkasten vor verwirrten Kinderaugen über Sensationsfunde, lauschte den Räubergeschichten des Grossvaters. «Ich war schon immer komisch, ein Einzelgänger.» In der Schule war Rafi wenig aufmerksam. Sein Interessensgebiet: Geschichte, Biblische Geschichte und Sittenlehre. Der Rest: verschwendete Zeit.

 

Zahlen addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren. Buchstaben kennen, anordnen, verstehen. Neu anordnen, neu verstehen.

 

«Schule ist Mist», klagte Rafi eines Abends. «Aber nein», mahnte der Grossvater, «man lernt dort lesen.» «Lesen ist Mist», gab Rafi zurück. Also las Albert Bernhard Huser aus den Abenteuern des Tom Sawyer vor. «Bitte, lies weiter!», rief Rafi nach dem ersten Kapitel, und der Grossvater? Sagte nein. Und schenkte Rafi das Buch.


«Ohne meine Bücher würde ich wohl sang- und klanglos eingehen»
Bei Tom Sawyer und Huckleberry Finns Abenteuern ergaben die Buchstaben-Kombinationen plötzlich Sinn. Die beiden weckten seine Abenteuerlust, die kindliche Neugierde. Aus der Abneigung wurde Leidenschaft, die sich über die Jahre verstärkte. Ein heutiger Tag ohne Lektüre? Zeitverschwendung. Ein Leben ohne Bücher? «Vermutlich würde ich sang- und klanglos eingehen.» Seit Jahren blättert er täglich mehrere Stunden in Fachzeitschriften und Lexika, liest in alten Büchern, sichtet und vergleicht Fotos von Tongefässen und Vasen, von Schwertern und Gehstöcken. Und liest über die Menschen und deren Leben aus früheren Epochen, um die Puzzleteile rund um seine Antiquariate zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen. Seine Bibliothek umfasst rund 2000 Bücher. Das meiste davon hat er gelesen – und memorisiert. Ist das Buchsbaumholz oder gefärbtes Hartholz? Was haben die Stempel auf der Klinge zu bedeuten? Rafi weiss es auf Anhieb. «Wissen ist nur anwendbar, wenn es bereits im Kopf ist. Und nicht, indem man es mit sich in einem viereckigen Kästchen herumträgt.» Er weiss: Die Bibliothek ist sein Nachschlagewerk, aber sein Kapital ist die Erinnerung.


Was Rafi selbst erlebt, das versteht er, der Rest bleibt tote Materie Inzwischen hatte sich das schulische Interessensgebiet von Rafi erweitert. Hinzu kam: Lesen. Der Rest? Blieb Zeitverschwendung. Seine Mutter erträumte sich für ihn eine Banklehre, adrett im Jackett, mit Krawatte und gefülltem Bankkonto. Aber alleine mit guten Noten in Geschichte, Biblischer Geschichte und Sittenlehre und Deutsch wurde niemand Banker. Deshalb wurde Rafi Maurer und später Galvaniseur. Beides für ein paar Monate, bis er genug hatte und hinschmiss.


Jetzt, Anfang 20, ohne Berufslehre, setzte Rafi alles auf seine Leidenschaft. Er stöberte vor dem Morgengrauen durch Flohmärkte und Messen, kaufte sich jene Fachlektüre und Lexika, die heute seine Bibliothek füllen, knüpfte Kontakte. Seine Mutter pumpte ihm ab und zu ein paar Noten, und als die ersten Geschäfte zum Abschluss kamen, die eigenen Franken in andere Hände übergingen, klappte auch das Rechnen formidabel: Das Addieren und das Subtrahieren, das Multiplizieren und Dividieren ergaben plötzlich Sinn. Was Rafi in der Schule lernte, blieb für ihn tote Materie. Was er aber sah und erlebte, das verstand er.

 

Ritterrüstungen, Dolche, Messer. Gehstöcke, Kerzenlicht und schwere Sessel.
Rafis Haus hat diesen musealen Charakter, es verschluckt jeden Gast innert Sekunden und zieht ihn mitten hinein in den wilden Sog der Epochen. Bald scheint man eine Handbreit über dem Boden zu schweben, und hinter jedem Siegelstempel und jedem Kupferstich lauert eine Geschichte, die einen jeden Moment anspringen kann, sofern Rafi sie entfesselt und den Gegenstand mit einer Anekdote aus ihrer Statik holt. «Weisheit in wenigen Sätzen zu übermitteln, ist schwer. Die Geschichten aber eignen sich formidabel, um Weltanschauungen oder Gedankengänge zu vermitteln.»


Ein unauffälliger Gehstock? Nein, ein politisches Statement
In seinen Antiquitäten sucht Rafi nach dem Unverständlichen, nach dem Graben, der sich zwischen dem Schein und der vermuteten Wirklichkeit auftut. «Sobald ich meine Erkenntnisse aus dem Objekt gezogen habe, lässt das Interesse nach. Aber bis ich den Gegenstand nicht erkannt habe, ist es mir unmöglich, ihn herzugeben.» Die letzten Jahrzehnte, sie stellten Rafi ungleich häufiger vor Fragen, als dass sie ihn mit Antworten beseelten. Die Wände und Regale füllten sich mit Gegenständen.

 

Wer waren diese Schauspieler auf der Bühne des Theaters «Welt»? Wann traten sie auf und in welcher Rolle? Diese längst vergangenen Stücke, sie lassen Rafi nicht los. «Je mehr ich mich durch einen Gegenstand an eine Persönlichkeit heranfühlen kann, desto interessanter wirds.» Ein Spazierstock aus seiner Sammlung hatte im untersten Drittel undefinierbare Spuren. Seine Nachforschungen ergaben: Der frühere Besitzer musste geraucht und seine Pfeifen immerzu an diesem Luxusstock ausgeklopft haben. Ein anderer Stock hatte einen gerillten Griff aus Elfenbein. Wer keine Fragen stellt, wird nichts finden. Wer allerdings die Silhouette des Stocks mit einer Taschenlampe an die Wand projiziert, der wird das Profil von Napoleon Bonaparte erkennen. Der Stock stammt aus der Zeit der Restauration, als Bonapartisten sich höchstens noch im Schein der Laterne diskret zu erkennen gaben. «Gegenstände einer Epoche sind emotional aufgeladen, sie sind Persönlichkeiten. Das ist endfaszinierend.»


«Kunst ist wert, was ein Narr bereit ist, dafür zu bezahlen»

Einen sensationellen Gegenstand zu erkennen, beschreibt Rafi als eines der grössten Glücksgefühle überhaupt: «Dieser schiere Moment, in dem man etwas wiederentdeckt, das in dieser Welt einst eine Rolle gespielt hat.» Der materielle Wert wird in diesen Momenten zweitrangig. Und doch: Rafi verdient mit den Antiquitäten seinen Lebensunterhalt. Das teuerste Objekt verkaufte Rafi für mehrere zehntausend Franken. Der Antiquitätenhandel ist Vertrauenssache, Diskretion deshalb Ehrensache. Ungefähr bei 30 Prozent liege er, der messbare Wert seiner Waren. Die restlichen 70 Prozent: Spekulation, Liebhaberei. Wertvoll ist, was gesucht ist. Als «Brave Heart» Mitte der 90er-Jahre im Kino lief, waren es schottische Dolche. Derzeit sind es feine Taschenmesser. Gibt es den fairen Handel? Oder gewinnt der eine, was der andere verliert? «Kunst ist wert, was ein Narr bereit ist, dafür zu bezahlen.»

 

Der Einzelgänger von früher, Rafi ist ihn noch immer. «Ich bin ein typischer Fachidiot», sagt er von sich, «ein Klugscheisser und Nerd». Er mag den Gedanken, an Dingen Freude zu haben, an denen nur noch eine rare Schar Menschen Freude hat. Im Winter trägt er Tweed-Anzüge im Stil der 20er-Jahre. Mit Gilet, Brosche und Stock. Ist das nicht altmodisch? «Nein, ästhetisch.» Ein bisschen anders zu sein als die anderen, es macht ihm Spass. Die Schönheit dieser Gegenstände von Auge zu erkennen, bezeichnet Rafi als das Edelste am Beruf des Antiquars. Das habe er in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, und er habe andere Menschen genauso an die Schönheit der Dinge herangeführt, wie es seine Berufskollegen damals mit ihm taten. «Aus der Harmonie dieser Gegenstände Kraft und Trost zu schöpfen, bereitet mir jeden Tag Wohlgefallen. Und das höchst gratis.»

Dieser Artikel ist am 26. Oktober 2018 im Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern erschienen.

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