LIVIA HÄBERLING
- Journalistin -
Am Puls der Jugend
in Downtown Affoltern
Viele Jugendliche verbringen ihre Freizeit im öffentlichen Raum – Bettina Gyr und Philipp Hauri besuchen sie.

Jeden zweiten Freitagabend sind Philipp Hauri und Bettina Gyr auf den Strassen von Affoltern unterwegs. Sie möchten erfahren, was die Jugendlichen bewegt. Ihr Angebot: Aufrichtiges Interesse an ihrem Gegenüber. Das, sagen die beiden, sei für viele junge Menschen eine rare Erfahrung.
Die Stadt taumelt bereits ins Wochenende, als Bettina Gyr und Philipp Hauri den Jugendtreff «Hirtschür» gegen halb acht Uhr verlassen. In ihren grauen und bordeauxfarbenen Stoffjacken, den Jeans und Trekking-Schuhen wirken sie wie Spaziergänger. Zweimal im Monat, abends, sind die beiden Jugendarbeitenden im Auftrag der Stadt in Affoltern unterwegs. Auf einem Rundgang besuchen sie die Jugendlichen an ihren Treffpunkten, führen Gespräche, fühlen den Puls. Was beschäftigt sie? Gibt es etwas, das ihnen fehlt?
Die beiden tun viel, um unauffällig zu sein. Keinesfalls möchten sie wie eine Warnpatrouille wirken – also keine Leuchtwesten. Oder wie Polizisten – also keine schwarzen Softshell-Jacken. Oder wie «Zwillinge» – also keine identische Kleidung. Es gibt Momente, da möchten sie während der Gespräche mit Jugendlichen nicht einmal wie Jugendarbeitende wirken. Um die Jugendlichen zu schützen. An einem Ort wie Affoltern, einer Stadt mit der DNA eines Dorfes, kann eine solche Unterhaltung in der Öffentlichkeit rasch zu Gemunkel führen.
Nun laufen Bettina Gyr und Philipp Hauri die Aeugsterstrasse entlang, schlängeln sich durchs Quartier, bis sie vor der Schulanlage Butzen stehen. Auf dem Sportplatz Stigeli halten sich die Jugendlichen gerne auf. Noch aber ist es zu früh, der Platz wirkt verlassen. Wieder schlendern die beiden durchs Quartier, zurück in Richtung Stadt-Zentrum.
Subtile Gesten richtig deuten
Mit ihrer Arbeit auf der Strasse möchten Bettina Gyr und Philipp Hauri den Jugendlichen das Gefühl vermitteln, dass jemand zuhört, nach ihrem Empfinden fragt, sich ehrlich interessiert. Das sei für viele junge Menschen eine rare Erfahrung, sagt Bettina Gyr: «Mein Eindruck ist, dass viele von ihnen in unserer Gesellschaft recht selten erleben, dass sie ernst genommen werden.»
Auf der Strasse lernen die beiden auch Jugendliche kennen, die keine Angebote in der «Hirtschür» besuchen. «Im Treff müssen sie sich an unsere Regeln halten. Nicht alle möchten das», so Gyr. Draussen, auf der Strasse, ändert sich das Setting: Dort werden die Jugendarbeitenden zu Gästen, besuchen die jungen Menschen an ihren Lieblingsplätzen. «Lebenswelt-Orientierung» nennt sich dieses Konzept. Aber wünscht die Zielgruppe Besuch von Erwachsenen? Freitagabends – just, wenn die müde Schülerseele ins Wochenende entwischt ist?
Um das situativ herauszufinden, brauche es ein gutes Bauchgefühl, sagt Philipp Hauri. Selten sage jemand: «Ich möchte jetzt nicht reden.» Die Unlust zeige sich subtiler, zum Beispiel in kurzen Antworten oder durch eine abweisende Körpersprache. Das ist für die beiden jedoch kein Grund, sich sofort wieder zu verabschieden. «Manchmal lohnt es sich, die Jugendlichen diese Spannung aushalten zu lassen.» Finde man ein Thema, das interessiere, entwickle sich oft plötzlich ein flüssiges Gespräch, sagt Hauri: «Dann sprudelt es richtig aus ihnen heraus.»
Durchbeissen, bis das Eis gebrochen ist
Wir überqueren die Zürichstrasse, laufen dem Migros-Gebäude entlang, bis zum Platz des Zentrums Oberdorf. Es sind Stimmen zu hören, junge Menschen zu sehen. «Hoi zäme», sagt Philipp Hauri zu den vier jungen Männern, die neben der Apotheke im Kreis stehen. Er stellt uns vor, erkundigt sich bei den Jugendlichen, was sie so machen. Eine möglichst offen gestellte Frage, die ihnen die Chance gibt, das Gespräch auf ihre Interessen zu lenken. Doch es harzt. Zwischen seine Fragen und die einsilbigen Antworten drängt sich peinliche Stille. «Und Corona ... Möged ers no gseh, oder isch d Luft langsam duss?» Philipp Hauri wirkt in diesen ewigen Sekunden wie ein bemühter Entertainer. «Der Einstieg war zäh», wird er später sagen. «Mein Gefühl sagte mir: ‹Die wären lieber unter sich.›»
Doch die Hartnäckigkeit lohnt sich. Nach und nach öffnen sich die Jungs, erzählen. Zum Beispiel, dass sie Corona längst «nicht mehr ernst nehmen können». Dass sie früher einen Freizeit-Raum hatten – bis die Miete zu teuer wurde. Dass sie gerne öfters Billard spielen würden. Dass sie in Affoltern eine Street-Workout-Anlage fürs Krafttraining vermissen. Dass die Goals auf dem Sportplatz «Moos» zu ihrem Bedauern häufig angekettet und somit unbenutzbar seien. «Jetzt verzelleds det Räubergschichte», raunt einer, der bis anhin nur zugehört hat. Nach und nach stossen weitere Kumpels zur Gruppe. «Mir sind vo dä Jugendarbet», sagt Philipp Hauri, «Ah, fix», entgegnet einer.
Nach einer Viertelstunde macht sich die Clique auf den Weg ins «Moos», Philipp Hauri und Bettina Gyr spazieren in Richtung Obere Bahnhofstrasse. Sie besprechen die vorherige Begegnung. Die anfängliche Zurückweisung sei häufig eher als Irritation zu deuten. Eine Irritation darüber, dass eine fremde Person sich nach ihrem Befinden erkundigt. Das aber sei ihnen in der aktuellen Situation besonders wichtig. «Seit dem Shutdown im Frühling haben wir regelmässig sehr lange Gespräche mit Jugendlichen geführt», sagt Bettina Gyr. Vermehrt seien sie in den vergangenen Wochen und Monaten bis 23 Uhr unterwegs gewesen. Dass es, wenn immer möglich, Philipp Hauri und Bettina Gyr sind, die gemeinsam «aufsuchen», ist kein Zufall. Der Wiedererkennungseffekt, Themen aus dem letzten Gespräch, an die sich anknüpfen lässt: Durch die Kontinuität soll das Vertrauen der Jugendlichen gestärkt werden.
«Känned Sie mich no?»
Die beiden laufen an der Buchhandlung vorbei, biegen in die Obere Bahnhofstrasse ein. Vis-à-vis vom «Fust», um den «Säulibrunnen», stehen neun Jungs.
«Gueten Abig mitenand, ich bi d Bettina vo de Jugendarbeit», sagt sie, und stellt ihre Begleitung vor. «Gueten Abig. Känned Sie mich no?», fragt einer, und Gyr antwortet: «Ja, sicher kenn ich dich no. Aber din Name chunnt mir grad nöd in Sinn.» Hauri ergänzt: «Am Weiher hinde hämmer dich s letsch Mal atroffe». Der junge Mann nennt den ersten und letzten Buchstaben seines Vornamens. Als sie seinen Namen nennen, wirkt er zufrieden, und ein wenig stolz. Immer wieder machen die Jugendarbeitenden diese Erfahrung: Dass es Jugendliche beeindruckt, wenn man noch weiss, wo man sie letztes Mal gesehen hat, worüber man mit ihnen gesprochen hat. Wenn man sich an sie erinnert. «Sie gehen schlicht davon aus, es habe einen nicht interessiert», so Gyr.
Am liebsten möchten sich vor dem Säulibrunnen alle am Gespräch beteiligen. Aus Stimmen wird ein Lärmknäuel. Und der Junge, der jetzt einen Namen hat, vielleicht der Älteste der Gruppe, ruft: «Hey Jungs, konzentriere bitte!» Später geht eine Frage von Bettina Gyr in den Sprüchen seiner Kumpels unter, und er tadelt: «Hey! Losed zue dä Frau!», um dann nachzuschieben: «Also: Um was gahts namal?»
Die Anwesenheit der beiden Jugendarbeitenden hat offenbar die Runde gemacht. Aus neun werden zehn, elf, zwölf Jungs. Am Schluss sind es 29. Die Corona-Bestimmungen jedoch sagen: 15 dürften es maximal sein. Ein weisser Kombi gleitet im Schritttempo vorbei, parkiert in der Nähe, und der Kleinste in der Gruppe ist sich sicher: «Jungs, das isch en Polizischt.» Da antwortet ein anderer: «Hängs mal Alte. De isch zivil unterwägs.» Der Polizei gegenüber scheinen die Jungs gemischte Gefühle zu hegen. Als Philipp Hauri sagt, er gehe mal rüber, findet einer das nicht nötig: «De isch elei. De getraut sich eh nöd, z’cho.» Kaum ist Hauri zurück, will er wissen, was «der Bulle» denn nun genau gesagt habe. Wenn auch nur in zivil: Es ist ja immerhin die Polizei.
Markige Sprüche, aber auch bescheidene Wünsche
Diese Ambivalenz spiegelt sich an jenem Abend noch in anderen Gesten der Jugendlichen. Sie erzählen von Renntöffs und von ihren Einsätzen als «Kämpfer» in harten Schlägereien, doch sie werden verlegen, wenn man sich nach ihrem Alter erkundigt. Sie dissen sich gegenseitig in einem geschliffenen Auf-die-Fresse-Deutsch, doch sie siezen die Jugendarbeitenden, obwohl man per
Du wäre. Danach gefragt, was ihnen in Affoltern fehlt, sagen sie: «Ich wünsch mir en fette Lamborghini, fetti Uhre und ganz viel Villas.» Später schenkt ihnen Philipp Hauri eine Dose Minz-Bonbons, und sie wirken zufrieden. Bettina Gyr sagt, sie erlebe die Jugendlichen häufig als bescheiden. Viele wären bereits dankbar für einen Ort, an dem sie ungestört sein dürften. «Sie wünschen sich einen Platz in der Gesellschaft und bitten um einen zugewiesenen Ort, den sie beanspruchen dürfen, ohne dass es jemanden stört.»
Wenig los für Jugendliche in Affoltern
Einzelne nutzen die Chance für ausführlichere Gespräche: So erkundigt sich einer, wie man Jugendarbeiter werde, erzählt von seiner Lehrstelle. Nach einer halben Stunde und einem Gruppen-Fotoshooting verabschieden sich Bettina Gyr und Philipp Hauri. Sie legen der Clique ans Herz, auf die 15-Personen-Regel zu achten und laufen in Richtung Bahnhof – wie einzelne Jugendliche. Viele von ihnen wirken an diesem Abend ziellos. Zuvor, im Gespräch beim Säulibrunnen, hat Bettina Gyr die Jugendlichen gefragt: «Bi was hämmer eu grad gstört?», da meint einer: «Ich wett e Rundi Billard spiele. Hed de Jugendträff offe?» Sie verneint. Ein anderer erklärt: «Mir sind in Affoltere unterwägs, will mir wend luäge, was da lauft.» Man fragt nach, was denn laufe. Doch irgendwie kann das niemand so recht sagen.
«In Affoltern ist für Jugendliche kaum etwas los», sagt Philipp Hauri. Es gibt den Jugendtreff. Und sonst? «Entweder sind sie zu Hause, dort gelten die Regeln der Eltern, oder sie sind im Jugendtreff, aber auch dort sind sie überwacht. Also weichen sie auf den öffentlichen Raum aus und vertreiben sich dort die Zeit.»
Kein ordnungspolitischer Auftrag
Als Nächstes laufen Bettina Gyr und Philipp Hauri Richtung Mc Donald’s, ziehen eine Schlaufe um den Braui-Weiher, kehren den Gleisen entlang zum Bahnhof zurück. «Hee, was gaht?», ruft einer von der Treppe vor dem Postgebäude runter. «Sinders am Gnüsse?», fragt Philipp Hauri den Jungen, der eine Zeit lang regelmässig im Treff verkehrte und jetzt eine Lehre macht. Nach einem kurzen Wortwechsel fragt er: «Söllemer schnäll ufe cho?» Der Junge erzählt, wie es ihm in der Lehre ergeht.
«Ja, und jetzt», fragt Philipp Hauri, als sie oben sind, «was macheder? Echli abhänge in Affoltere?» «Nei», erwidert der Junge, jetzt wolle er noch zum Kronenplatz runter. «Kroneplatz? Di alti Gäng zämetrummle?» – «Nei, nei, ‹öppis› go hole.» Das «öppis», man riecht es aus meterweiter Distanz. Doch Philipp Hauri und Bettina Gyr werten die Konsumgewohnheiten der Jugendlichen nicht. Sie haben keinen ordnungspolitischen Auftrag. Bei Bedarf geben sie Kärtchen ab mit Telefonnummern von Beratungsstellen. «Ihr wüssed, gäll», sagt Hauri, «ihr dörfed jederzit cho, wenn ihr öppis bruched.»
Bettina Gyr und Philipp Hauri gehen beim Schulhaus Ennetgraben vorbei, marschieren nochmals hoch zur Schulanlage Butzen. Niemand da. Um 23 Uhr sind sie zurück in der «Hirtschür». Bald wird auch ihr Wochenende beginnen.
Dieser Beitrag ist am 19. November 2020 im Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern erschienen.