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Der Traumtänzer

Auf mehr als 20 Fasnachten hat Ruedi Seehofer in dieser Saison gefeiert – auch im Säuliamt

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Ruedi Seehofer ist 81 Jahre alt und verrückt nach Fasnachtspartys. Die Tanzfläche wurdein den letzten Jahren zu seiner Bühne. Wie kam es dazu?

Der Mann mit der schillerndsten Maske trägt keine Gesichtsbedeckung. Er trägt überhaupt keine Verkleidung. Hautenge Jeans, Turnschuhe, ein goldener Pailletten-Hut und ein Shirt mit der Aufschrift: «Y’a pas plus brillant que moi». Es gibt keinen Besseren als mich.


Um 19 Uhr 30 startet der «Höcklerball» in Hedingen an jenem Samstag, und Ruedi Seehofer steht ein paar Minuten zu früh vor dem Kassenhäuschen. «Ich war der erste Gast», wird er später sagen und sein Garderobenticket herzeigen: Nummer eins.


Besser als fast alle anderen


Er sei ein selbstbewusster Mann, sagt Ruedi Seehofer über sich. «Mir gelingt fast alles.» Das Tanzen zum Beispiel. Darin sei er nicht nur besonders gut – besser als die meisten anderen – es mache ihm auch viel Spass: «Ich bin Tänzer mit Leib und Seele.» Die Klänge an einer Fasnacht, sagt er, seien mehr nach seinem Geschmack als jene an Anlässen seiner Altersgruppe. Auch deshalb besucht Seehofer diese Feste so gerne: «Für mich ist Jodel nun mal keine Musik.» Dass die meisten Partygäste seine Kinder und Enkelkinder sein könnten, stört ihn nicht: «Mit den Jungen kann ich mühelos mithalten.» Vielmehr noch sei er den meisten auf der Tanzfläche überlegen. «Manche werden fast neidisch auf meine geschmeidigen Bewegungen.»


In der Festbeiz bestellt Ruedi Seehofer einen Café Crème. Als er am Boden einen Löffel sieht, bückt er sich, hebt ihn auf, legt ihn auf den Holztisch. Tafelbesteck hat in Ruedi Seehofers Leben über Jahre eine Hauptrolle gespielt.


Am 29. Dezember 1938 wird er in Zollikon geboren, «unter den Reichsten der Reichen, als armer Sohn von Fremdarbeitern». Seine Eltern sind Österreicher. Der Zweite Weltkrieg tobt, als die Familie 1941 in die nationalsozialistisch besetzte Heimat zurückreist – der Vater will nicht als Deserteur gelten. Seehofer besucht die Volksschule, verlässt sie nach acht Jahren, am Mittag des 12. Juli 1952. Und tritt nur wenige Stunden später im Hotel Post in Salzburg eine Stelle als Kellner an. 1954 kehrt er in die Schweiz zurück und absolviert eine Lehre als Kellner. Er arbeitet sich hoch, wird Chef de Rang und ist – so erzählt er es – mit 22 Jahren «der jüngste Oberkellner der Schweiz». Sein bescheidener Plan: gross rauskommen, auch finanziell.


Besteck polieren für jene, die es geschafft haben


Ein paar Tage nach dem «Höcklerball» erscheint Ruedi Seehofer zum Gespräch im Restaurant Sonne in Benzenschwil. In diesem aargauischen 550-Seelen-Dorf bewohnt er heute eine kleine Wohnung, zuvor hat er in Luzern gelebt. Zum Treffen bringt er seine Biografie mit. Der Titel: «Stägeli uf, Stägeli ab – eine aussergewöhnliche Lebensgeschichte». Ebenfalls dabei hat er einen Ordner. Das Schulaustrittszeugnis, Arbeitsbescheinigungen, Dankesschreiben und Autogramme – Seehofer hat all diese Belege in durchsichtige Zeigetaschen darin versorgt und abgelegt. Es sind viele Zeigetaschen.


«Ich hatte sie alle», betont er, «die Reichen und die Steinreichen.» Giovanni Agnelli, «der grosse Fiatboss», Liz Taylor, «die berühmte Schauspielerin», aber auch Richard Burton und Roger Moore. Sie residierten für ein paar Tage im Palace Hotel in St. Moritz, im Arosa Kulm Hotel oder im Palace Hotel in Gstaad. Und Ruedi Seehofer war ihnen nahe. Zu Diensten.


Der Kontakt mit den «guten Leuten» habe ihn am Gastgewerbe gereizt, sagt er, während er im Ordner blättert. «Sehen Sie hier», ein Neujahrsgruss von Hazy Osterwald, «sehen Sie da», die Autogramme der FCB-Spieler von 1963, «lesen Sie nur, wie man mich rühmt», ein Dankesschreiben des Schweizer US-Botschafters Alfred Zehnder: «In einem guten Hotel ist eine gute Bedienung eine Selbstverständlichkeit. Aber Zuvorkommenheit und Freundlichkeit sind Zusätze, die man schätzt. Sie zeugen von Herzensgüte.» Ruedi Seehofer hat als Kellner vieles richtig gemacht, sagen die anderen. Er hat es schriftlich.


Er tanzt weiter, bis der Applaus verebbt


Vor dem Garderobenstand des «Höcklerballs» kramt Ruedi Seehofer in seiner Hosentasche nach dem Ticket. Sein Mobiltelefon hat er abgegeben, jetzt aber braucht er es. Bevor er tanzen geht, will er ein paar Fotos zeigen. Er wischt mit dem Zeigefinger durch seine Galerie. Das Sujet wiederholt sich: Zwei Menschen lächeln in die Kamera – einer ist stolz, der andere prominent. «Eine Freundin von mir», sagt er über die Frau auf einem der Bilder. Es ist Jodel-Bekanntheit Melanie Oesch.


Kurz darauf betritt Ruedi Seehofer den Saal, pirscht durch die Menge. Mit seinem glitzernden Hut übersieht man ihn kaum. Mal tanzt er hier für einen Augenblick mit einer Dame, mal dort mit einer anderen. Meistens lachen die anderen Partygäste, sie klatschen. Und Seehofer tanzt weiter, bis der Applaus verebbt. Dann bahnt er sich wieder seinen Weg, fast mechanisch. Nicht schlendernd, eher suchend. Halt suchend. «Sie laufen nicht weg, oder?», fragt er einmal. Es wirkt, als wisse Ruedi Seehofer, der Kellner, nicht recht wohin mit Ruedi Seehofer, dem Tänzer.


Gefeierter TV-Star – für einen Abend


An hohen Ambitionen hat es Seehofer in seinem Leben nie gefehlt: «Als kleiner Junge wollte ich Boxweltmeister werden.» Er sammelt jeden Zeitungsartikel über seinen Lieblingssport, legt ein persönliches Archiv über John Lewis, Cassius Clay und Co. an. «Das Umfangreichste von Europa», ist er noch heute überzeugt. Am 21. Mai 1966 boxt Weltmeister Clay, inzwischen bekannt als Muhammad Ali, gegen den Briten Henry Cooper. Seehofer reist nach London, erlebt den Kampf live.


Im Herbst 1966, inzwischen verheiratet und Vater von zwei Töchtern, meldet er sich in Mäni Webers TV-Sendung «Dopplet oder nüt» an. In der Show müssen die Kandidaten Fragen zu einem selbst gewählten Fachgebiet beantworten. Seehofers Thema: Boxweltmeisterschaftskämpfe im Schwergewicht. Wer zehn richtige Antworten gibt, gewinnt 4000 Franken.


Seehofer gibt zehn richtige Antworten. Am 4. April 1968 ruft Mäni Weber: «Sie haben gewonnen, Herr Seehofer, Sie habens geschafft!» Der Luzerner Stadtpräsident übersendet seine Glückwünsche, im Studio marschiert die Schweizer Boxprominenz auf. Zu Ehren des Siegers. Seehofer schneidet Bild und Text aus den Zeitungsberichten, klebt die Fotos von sich auf einen Karton, formt aus den Buchstaben den Schriftzug «Bravo». Und legt die Collage in seinem Ordner ab.


Sofort geht es wieder abwärts


Beflügelt von seinem TV-Erfolg, bringt Ruedi Seehofer sein Fachwissen aus «Dopplet oder nüt» ein paar Monate später in Buchform heraus: «Die Giganten des Rings» zeichnet die Lebensläufe der Boxschwergewicht-Weltmeister nach. Als er keinen Abnehmer findet, bringt er das Buch im Eigenverlag auf den Markt, druckt 4000 Exemplare – und verkauft nur 1200. Seehofer bleibt auf den Kosten sitzen, verschuldet sich.


Um die Schulden zu tilgen, arbeitet er als Reiseleiter, kauft die «Flora Skischule» Luzern – und geht nach der zweiten Wintersaison pleite. 1972 organisiert er ein Amateur-Boxturnier im Hotel Union Luzern. Seehofer verkalkuliert sich, nach dem Anlass klafft ein Loch von 60000 Franken in der Kasse – er muss Konkurs anmelden. Später arbeitet er als Boxsport-Promoter, betreibt einen Skilift, ein Reform-Lädeli und ein Kochstudio. Verkauft Schlagrahm und Käse – und tilgt seine Schulden. Die Ehe kriselt, 1988 lässt sich das Paar aus finanziellen Gründen scheiden.


Doch noch berühmt – als Tänzer


Im Schlusswort seiner Biografie aus dem Jahr 2004 schreibt Ruedi Seehofer, er habe bereits als junger Mann den Entschluss gefasst, im Leben Erfolg zu haben und ganz nach oben zu kommen. «Da es mir bis jetzt noch nicht gelungen ist, werde ich weiterhin meine ganze Persönlichkeit dafür einsetzen.»


Im selben Jahr kauft sich Seehofer einen goldenen Hut, tanzt erstmals an der Street Parade. Die Zeitungen werden auf ihn aufmerksam, taufen ihn «Techno-Ruedi» oder «Raver-Opa». Das Fernsehen holt ihn zu Hause ab, filmt ihn während er auf einem der Love-mobiles seine Hüften kreisen lässt. Man kennt ihn, erkennt ihn. Damit das so bleibt, trägt Seehofer stets seinen Hut. Auch im Oktober 2018, als der Musiker Bligg mit seiner Stammtisch-Tour im luzernischen Müswangen Halt macht. Seehofer sitzt im Publikum, Bligg spricht ihn an, Seehofer steht auf, tanzt. Applaus.


Zwei Monate später, am 8. Dezember, tritt Bligg im KKL Luzern auf, Seehofer darf mit auf die Bühne. Er ist Teil der Show. Sein Gast feiere bald seinen Achtzigsten, verrät Bligg dem Publikum. Am 29. Dezember erhält er Zuschriften aus der ganzen Schweiz. «Glückwünsche, Briefe und siebzehn Geschenkkörbe.» Nicht von Bligg-Fans, sagt er, «von meinen». Wenn er schon kein Geld habe, dann wolle er wenigstens berühmt sein.


Hat es Ruedi Seehofer inzwischen geschafft? Ist er gross rausgekommen – so, wie er sich das in jungen Jahren vorgenommen hat? Und stimmt es, was er sagt: Ist er der Typ, dem fast


alles gelingt? «Haben Sie ein erfolgreiches Leben geführt?» Seehofer formuliert es so: «Ich habe in meinem Leben immer Erfolg gehabt. Ich bin dabei bloss ständig pleite gegangen.»

Dieser Beitrag ist am 13. März 2020 im Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern erschienen.

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